Grundeinstellung, mal anders

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boggsermodoa
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Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von boggsermodoa »

Salü zusammen!


Ich denke, es wäre vielleicht mal ganz nützlich, etwas losgelöst von irgendwelchen konkreten technischen Problemen über die allgemeine Vorgehensweise beim Aufspüren und Beheben von technischen Fehlern zu reden. Es soll hier also weniger um eine Anleitung in der Art "Tue dieses, dann jenes und prüfe Folgendes" gehen, sondern um das zugrunde liegende Prinzip, nach dem man zu solch einer Anleitung kommt. Letztlich also so 'ne Art "Meta-Reparaturanleitung".

Eine solche existiert bereits in dem epochalen Buch "Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten" von Robert M.Pirsig, wenngleich man diesem Buch gnadenlos Unrecht tut, wenn man es auf diesen Inhalt verkürzen wollte. Die meisten werden es bereits kennen, für alle anderen erkläre ich es hiermit zur Pflichtlektüre, auch wenn man nix mit Motorrädern am Hut haben sollte. Es ist außerdem ein hervorragendes Zeitdokument aus der Epoche, als noch neue T2 vom Band liefen und die - man staune - eben nicht nur aus zugekifften Hippies bestanden hat.
Pirsig unterscheidet darin zwischen der Idee von irgendeiner Sache und dem realen Objekt, also etwa der Idee vom Reiten, der "Pferdheit" und dem realen Gaul, welcher lahmen oder auf der Stelle tot umfallen kann, ohne daß er dadurch das zugrundeliegende Prinzip des Reitens in Frage stellen würde.
Reiten funktioniert.
Punkt.
Der Bulli funktioniert ebenfalls. Das hat er bereits millionenfach bewiesen. Wenn mein eigener nun ausgerechnet hier und jetzt nicht funktionieren sollte, dann muß er sich offenbar vom idealen Bulli bzw. der Idee vom Bulli in irgendeinem Detail unterscheiden, das ihn am Funktionieren hindert. Und dieses Detail gilt es nun zu finden.

Das Wichtigste an dieser Aussage ist, daß das Wort "Detail" hier im Singular steht. Ein technischer Defekt ist so etwas wie ein Blitzeinschlag - also nicht gerade die Regel, aber kann passieren. Die Vorstellung jedoch, daß zwei technische Defekte unabhängig voneinander gleichzeitig auftreten, ist etwa so wahrscheinlich, wie das gleichzeitige Einschlagen zweier Blitze an der selben Stelle.
Bevor wir also irgendwo Hand anlegen, müssen wir uns bewußt machen, wie sehr wir uns davor hüten müssen, Konfusion zu verbreiten, indem wir planlos Dinge auseinander reißen oder ganze Baugruppen durch irgendwelche fremde mit unbekannter Funktion ersetzen. Das öffnet der Verwirrung Tür und Tor. Auch am defekten Bus funktioniert zunächst mal alles - mit Ausnahme jenes winzigen Details, das wir finden müssen! Wir müssen uns also behutsam vorwärts tasten und dabei auch stets darauf achten, daß wir durch unsere eigene Schrauberei keine neuen Fehler hinzufügen. Ob man die Reihe "Hab ich einen Funken an der Kerze? Hab' ich einen Schaltimpuls von den Kontakten? Hab' ich überhaupt Spannung?" nun rückwärts oder vorwärts abfrühstückt, ist weitgehend wurscht. Wichtig ist nur, daß der Verteiler wieder so ist wie vorher, wenn ich die Kappe wieder drauf clipse und daß ich am Ende sicher weiß, ob ich nun einen Funken habe oder nicht.
Nützlich ist es dabei natürlich, wenn man weiß, wie die einzelnen Bauteile funktionieren und wie sie zusammen funktionieren. Wenn man da unsicher ist, muß man irgend eine Strategie finden, seine Gedanken zu ordnen bzw. aus dem Wenigen, das man weiß, die richtigen Fragen abzuleiten, um daraus wieder Experimente abzuleiten, die genau diese Fragen beantworten. Mir hat es z.B. bei einem Fehler in der Elektrik mal geholfen, das Wenige was ich damals darüber wußte, einfach meiner Begleiterin vorzubeten. Die hat mich zwar mit großen, fassungslosen Augen angestarrt und kein Wort verstanden, aber indem ich es ihr erklärt habe, wurde mir bewußt, wo ich selbst im Nebel stochere. Der Weg führte dann zielstrebig von einem verschmorten Kabel im Motorraum zum Zündschloß in 4m Entfernung - et voila: Weiter ging's!

Das waren übrigens keine zwei Fehler zur gleichen Zeit, sondern der eine war eine Folge des anderen. Vor allem bei mechanischen Defekten, insbesondere Motorschäden, muß man immer sehr darauf achten, daß man nicht bloß die defekten Bauteile ersetzt, sondern die Ursache für den Schaden ergründet. Das neue Ventil wird z.B. gleich wieder abreißen, wenn man die Ursache für seine Überhitzung nicht beseitigt. Motorschäden sind i.d.R. Folgeschäden aus irgendwelchen Kleinigkeiten in der Peripherie. In wirklichem Verschleiß haben sie nur selten ihre Ursache.

Ich habe mal einen Volvo P245 Turbo gekauft. Wunderbares Auto, aber mit Kaltstartschwierigkeiten. Der Vorbesitzer zeigte mir einen ganzen Stapel Werkstattrechnungen. Seit zwei Jahren waren die hinter diesem Problem her, hatten Tod und Teufel an Teilen ausgetauscht, Kosten in vierstelliger Höhe verursacht, ohne daß sich irgend ein Fortschritt eingestellt hätte. Ich hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung und habe mich zunächst mal mit Literatur versorgt, um rauszufinden, wie so 'ne K-Jetronic überhaupt funktioniert. Habe lange gesucht, aber letztlich war's primitiv. Es gibt dort für die Kaltstartanreicherung nur zwei Einrichtungen. Eine Düse, die für ein paar Sekunden zusätzlichen Sprit einspritzt und einen Kaltlaufregler, der über eine elektrisch beheizte Bimetallfeder den Steuerdruck variiert. Da der rumpelige Motorlauf länger als ein paar Sekunden dauerte, konnte es also nur an letzterem hängen. Zerlegt, Kontakt klebte, Kontakt gängig gemacht -> funktioniert. Allerdings stimmte jetzt natürlich der Steuerdruck nicht mehr, denn den hatte ja die Fachwerkstatt vorher für korrektes Gemisch mit klebendem Kaltstartregler eingestellt (und sich damit wohl endgültig den Weg verbaut, den eigentlichen Fehler zu finden). Ich bin dann zum nächstgelegenen Boschdienst und habe den Auftrag "Steuerdruck einstellen!" erteilt. Der Typ hinter'm Tresen schaute mich an, wie die Geiß, wenn's blitzt! Steuerdruck geprüft, war tatsächlich falsch, eingestellt und die Kiste lief! Das ganze Drama beim Vorbesitzer hatte also seinen Ursprung darin, daß beim ersten Werkstattaufenthalt nur dumm am Steuerdruck rumgedreht wurde, anstatt sich die Frage zu stellen, wieso der plötzlich so weit daneben liegen konnte.


Gruß,

Clemens
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OldieLiebe
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Re: Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von OldieLiebe »

BOA super - ich denke Du tippst schneller als ich. Klasse Idee. :gut:
Herzliche Grüße Wanja

68PS kann man, muss man aber nicht ... lieber originell, als Original.

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OldieLiebe
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Re: Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von OldieLiebe »

... übrigens ein sehr homöopathischer also gesunder & sympathischer Ansatz :thumb:
Herzliche Grüße Wanja

68PS kann man, muss man aber nicht ... lieber originell, als Original.

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T2beule
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Re: Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von T2beule »

boggsermodoa hat geschrieben:Salü zusammen!
Ich denke, es wäre vielleicht mal ganz nützlich, etwas losgelöst von irgendwelchen konkreten technischen Problemen über die allgemeine Vorgehensweise beim Aufspüren und Beheben von technischen Fehlern zu reden. Es soll hier also weniger um eine Anleitung in der Art "Tue dieses, dann jenes und prüfe Folgendes" gehen, sondern um das zugrunde liegende Prinzip, nach dem man zu solch einer Anleitung kommt. Letztlich also so 'ne Art "Meta-Reparaturanleitung". (...)

Hast vollkommen recht. Sonst könnte man das Thema auch auf: "Bestelle Dir eine gebrauchte Ausgabe von 'Jetzt helfe ich mir selbst', schlage Seite XYZ auf und tue, was da steht." reduzieren. Aber gerade bei den "tue dies & tue das"-Geschichten kapiert der Dumme (könnte z.B. ich sein) die Zusammenhänge und Hintergründe oft nicht und verbastelt sich den Weg zur Wurzel des Übels endgültig.

Der Vergleich mit dem Motorradbuch gefällt mir übrigens sehr. Ich betrachte als sesselklebender Berufsbleistiftspitzer den Bus nämlich auch als so eine Art mobilen Zen-Garten, der zur Seelenmassage zwischendurch mal neu geharkt werden muss... gute Vorbeugung gegen den Bezugsverlust zu Konkretem in einer immer abstrakteren Welt. Oder so ähnlich.

In Anbetracht der kleinen Kabelleien am Rande bzw. im Herzen des Forums finde ich Deinen Beitrag einfach mal grundsätzlich goldrichtig.

Gruss, Mario
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metalsrevenge
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Re: Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von metalsrevenge »

Tja.

Das war echt fällig.
In künftigen Fällen von Beratungsresistenz oder grundlegender Ahnungslosigkeit kann man ja einfach hierher verlinken... toll !
:thumb:
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Inox
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Re: Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von Inox »

Sehr geiler Beitrag und so wahr :respekt:
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Roman
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Re: Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von Roman »

Super Beitrag!
Viel zu schnell wird z.B. bei Motorproblemen am Veraser herumgedreht, dabei sind die häufigsten Störungen bei Benzinmotoren immer noch an der Zündanlage.
Und das mit dem "vorbeten" kenne ich auch: indem ich versuche, meiner Frau etwas zu erklären, komme ich entweder selbst auf die Lösung, oder sie hat einen guten Ansatz.

Viel Erfolg bei allen Reparaturen,

Roman
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GoldenerOktober *001
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Re: Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von GoldenerOktober *001 »

Folks!
Der Clemens hats dann mal allgemein formuliert, was in den letzten Tagen mal wieder für Erheiterung, Chips und Couch auf der einen, für Haareraufen und doofe Anmache auf der anderen Seite geführt hat.
Als Quintessenz geht aber auch aus Clemens´Ansatz ganz klar hervor, daß beim Arbeiten zu Allererst mal Denken gefragt ist. Logisch kombinieren und Einkreisen, gezieltes und strukturiertes Arbeiten führt zum Ziel. Und so käme es zu wesentlich weniger Unklarheiten und Gelaber am Thema vorbei, wenn jeder versuchen würde, tiefgreifend und präzise zu arbeiten - am Werkstück genauso wie hier in Textform. Da geht es nämlich hier wie dort um Ergebnisqualität. Meine Rede schon ewig.

Nur nicht so schön didaktisch Aufgearbeitet wie bei WikiClemens! Danke!

Viel Spaß beim Schrauben auch weiterhin,
Gruß Torsten
Mit dem Bus da steckenbleiben, wo die Anderen erst gar nicht hinkommen...
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Robin
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Re: Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von Robin »

Wie immer genial formuliert :thumb:

Die Vorgehensweise erinnert mich an die Autodoktoren aus dem VOX Automagazin AUTO-MOBIL. Macht z.T. echt Spaß, den beiden zuzuschauen, wie sie analytisch den Fehler suchen.

Klar wird da nicht alles echt sein und hier und da wird evtl. was dazu erfunden bzw. weggelassen, aber die prinzipielle Vorgehensweise dürfte authentisch sein: Logisch den Fehler einkreisen, sich technische Zusammenhänge klar machen, nicht aufgeben und dann geziehlt die (meist sehr kleine) Ursache beheben.
Luftige Grüße Robin
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Harald
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Re: Grundeinstellung, mal anders

Beitrag von Harald »

GoldenerOktober *001 hat geschrieben:Logisch kombinieren und Einkreisen, gezieltes und strukturiertes Arbeiten führt zum Ziel.
Neben der Erfahrung, daß sich die Gedanken besser sortieren und strukturieren, wenn man dem Airedale erklärt, was man gerade vorhat, hat sich auch erwiesen, einfach mal alles liegen zu lassen. Ganz was anderes machen, vielleicht auch mal einfach nur ne Nacht drüber schlafen.

Man muß dem Hirn auch einfach mal ne Chance geben, querbeet alles durch zu denken.

Was habe ich mir schon für Arbeit dadurch gemacht, daß es jetzt fertig werden muß/nicht so schwer sein kann/noch ´n kräftiger Ruck, dann isse los/ich flex das jetzt ab!

Und das Getute um den Vergaser: 100% - das Einzige, was man nicht kennt, muß die Ursache sein.

Grüße,
Harald
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